Die Ausstellung über die Kunstszene Rumäniens beleuchtet das Potenzial eines kulturellen Raumes, von dem wichtige Impulse für die Entwicklung von Avantgarde und Moderne in Europa ausgingen.
11.6.2015—4.10.2015
Untere Ausstellungshalle

Für fast alle wichtigen Kunstbewegungen Europas zählen rumänische KünstlerInnen entweder zu den GründerInnenfiguren oder zu zentralen ProtagonistInnen. Dasselbe gilt für die Literatur und den Film.

Der Urvater der modernen Skulptur ist ein Rumäne: Constantin Brâncuși. Von den Dadaisten 1916 in Zürich waren drei aus Rumänien: Tristan Tzara (Samuel Rosenstock), Arthur Segal (Aron Sigalu) und Marcel Janco (Marcel Iancu) (siehe Dada East. The Romanians of Cabaret Voltaire, Tom Sandqvist, 2006). Zu bedeutenden VertreterInnen des Surrealismus gehören Victor Brauner, Benjamin Fondane und Gellu Naum. Die rumänische Prinzessin Anna de Noailles, Lyrikerin und Freundin von Marcel Proust, hat gemeinsam mit ihrem Mann die surrealistischen Filme von Bunuel und Dalì finanziert. Der Begründer des Lettrismus war der Rumäne Isidore Isou, aus dem sich die Situationistische Internationale von Guy Debord abspaltete. Der zentrale Begründer des absurden Theaters, Eugène Ionesco, war Rumäne, sowie der nihilistische Autor von Gedankendämmerung und Lehre vom Zerfall, Emil Cioran. Die große literarische Tradition Rumäniens hat sich bis Paul Celan, Oskar Pastior, dem Romancier Mircea Cărtărescu und der Nobelpreisträgerin Herta Müller fortgesetzt. Der Rumäne Daniel Spoerri hat viele Kunstrichtungen mitbegründet, unter andere den Nouveau Réalisme. Der Rumäne André Cadere ist ein wichtiger Vertreter der konzeptuellen Malerei. Der Fotograf und Filmemacher Eli Lotar ist Impulsgeber der neuen rumänischen Filmwelle. Die gegenwärtige Filmgeneration Rumäniens mit Cristi Puiu, Christian Mungiu, Corneliu Porumboiu, Marian Crișan, Radu Muntean und Andrei Ujica zählt zu den besten der Welt.
 

Als Stadt ist Bukarest eine Metropole der modernen Architektur (siehe Romanian Modernism: The Architecture of Bucharest, 1920–1940, Luminiţa Machedon und Ernie Scoffham, 1999). Rumänien ist ein Beispiel für das Unglück Europas, das mit dem Zweiten Weltkrieg begann und sich mit dem Kalten Krieg bis 1989 fortsetzte, währenddessen der „Eiserne Vorhang der Ideologien“ Ost- und Westeuropa zerschnitten hat. Die genannten KünstlerInnen, die um hunderte weitere KünstlerInnen aus Osteuropa ergänzt werden könnten, haben vor allem die westliche Moderne wesentlich mitentwickelt; man denke nur an den Konstruktivismus. Auch Hollywood verdankt seine besten Filme den osteuropäischen MigrantInnen, wie etwa Billy Wilder. Die Trennung in Ost und West, die sich durch politische Machtverhältnisse in die Geschichte einschrieb, hat nicht nur Osteuropa geschadet, sondern auch Westeuropa. Diese Trennung hat die Entwicklung der Kunst in Westeuropa beeinträchtig und blockiert. Sie kam einer „Auto-Amputation Europas“ gleich, die zu lange geduldet wurde.

Die jetzige Ausstellung gewährt einen episodischen Rückblick auf die Vergangenheit, einen Einblick in die gegenwärtige dezentrale zeitgenössische Kunstszene Rumäniens (in Bukarest, Cluj, Timișoara, Sibiu oder in der Diaspora) und öffnet ein Fenster in die Zukunft. Die kulturelle Landkarte Bukarests, durch das Prisma bzw. Vergrößerungsglas der Kunst betrachtet, zeigt ein Land, das eine lange Revolution durchlaufen hat (siehe The Long Revolution, Raymond Williams, 1961), das seine Erinnerung wiedergewinnt und Momente der Freiheit nach dem Schock der Diktatur von Nicolae Ceaușescu erfährt. Das rumänische    Kunstpanorama bietet insofern eine Perspektive auf Europas Zukunft: das Ende der „Auto-Amputation“. KünstlerInnen unterschiedlicher Generationen stellen in ihren Arbeiten, die teilweise für die Ausstellung entstanden sind, vielschichtige Themen zur Diskussion: Arbeit, Industrie und Landwirtschaft – Material und Form – Kunst und Vorbild – Intuition, Kreativität und Zusammenarbeit – Zensur oder Exil – Religion, Spiritualität und Mystik – Körper, Raum und Performance – Politik und Utopie – privater und öffentlicher Raum im Wandel der Zeit. Die prämierten zehn Beiträge des Ideenwettbewerbs Create Your Bucharest werden als Teil der Präsentation gezeigt.

Teilnehmende KünstlerInnen
Ovidiu Anton (* 1982)
Ion Bârlădeanu (* 1946)
Horia Bernea (* 1938–2000)
Alexandra Bircken (* 1967)
Ion Bitzan (1924–1997)
Mihuț Boșcu Kafchin (* 1986)
Geta Brătescu (* 1926)
André Cadere (1934–1978)
Mircea Cantor (* 1977)
Marieta Chirulescu (* 1974)
Ana Ciceala (* 1983) & Mircea Nicolae (* 1980)
Andreea Ciobica (* 1986)
Belu-Simion Fainaru (* 1959)
Constantin Flondor (* 1936), Sigma 1 (gegründet 1969)
Harun Farocki (1944–2014) & Andrei Ujică (* 1951)
Adrian Ghenie (* 1977)
Eileen Gray (1878–1976) & Jean Badovici (1893–1956)
Ion Grigorescu (* 1945)
Marcel Janco (1895–1984)
Adolf Loos (1870–1933)
Ion Lucian Murnu (1910–1984)
Ciprian Mureşan (* 1977)
Dan Mihaltianu (* 1954), SubREAL (gegründet 1990)
Joachim Nica (* 1937)
Mircea Nicolae (* 1980)
Paul Neagu (* 1938–2004)
Dan Perjovschi (* 1961)
Eugenia Pop (1945–2012)
Raluca Popa (* 1979)
Ștefan Sava (* 1982)
Daniel Spoerri (* 1930)
Iulia Toma (* 1974)
Andrei Ujică (* 1951)

Gewinnerinnen des Ideenwettbewerbes Create Your Bucharest
Ovidiu Anton (* 1982) & Alexandru Bălășescu (* 1974), Gewinner des Hauptpreises
Anca Benera (* 1977) & Arnold Estefan (* 1978)
Larisa Crunțeanu (* 1984) & Xandra Popescu (* 1984)
Carmen Secăreanu (* 1970)
Rareș Tudor Pop (* 1980)
Răzvan Delcea (* 1990) & Andrei Voica (* 1989)
Maria Daria Oancea (* 1987) & George Octavian Marinescu (* 1989)
Dragoș Olea (* 1979)
Andra Răcășan (* 1991) & Elena Rucsandra Maior (* 1991)
Gina Ster (* 1981)

KuratorInnen
Peter Weibel, Vorstand ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, emer. o. Univ.-Prof., Universität für angewandte Kunst Wien, und Bärbel Vischer, Kustodin MAK-Sammlung Gegenwartskunst 
 

Filmprogramm

18.6.–24.9.2015, jeden Donnerstag ab 14:00 Uhr
MAK-Vortragssaal, Weiskirchnerstraße 3, 1010 Wien

Andrei Ujică
Out of the Present
1995
Film
1:36 Std.
© Andrei Ujică
 
Harun Farocki & Andrei Ujică
Videogramme einer Revolution
1992
1:47 Std.
The Estate of Harun Farocki
Courtesy of Galerie Thaddaeus Ropac, Paris, Salzburg

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