Studiensammlung Sitzmöbel

Kurator: Sebastian Hackenschmidt

Studiensammlung Sitzmöbel 1993-2013

Ein Teil unseres materiellen Gedächtnisses befindet sich in diesem Raum. Ist es nur eine Ansammlung beliebigen Hausrats oder aber manifestiert sich hier Geschichte als die Gesamtheit unseres Bewusstseins? Wie weit stehen wir mit diesen Dingen noch in einer direkten Verbindung? Oder hat sich hier ein Archiv gewesener Dinge angehäuft, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Qualitätsmerkmale „museal“ beziehungsweise „second hand“ sind? Wir haben die Wahl zwischen diesen beiden Assoziationsmöglichkeiten, zwischen dem Objekt- oder Funktionscharakter eines Gegenstandes. Nur letzterer aber lässt das museale Gut wieder zu einem Bestandteil unseres Konsumentenalltags werden. Statt eindimensionaler Stilgeschichte erleben wir einen dreidimensionalen Stammbaum unserer eigenen Kulturgeschichte. Selbstverständliches bekommt somit die Möglichkeit, wieder verständlich zu werden.

 

Versucht wird dies anhand visuell sinnlicher und nicht didaktischer Vermittlung. Der sichtbaren Gegenüberstellung unterschiedlicher oder gleicher Typen, Funktionen, Entwicklungsstufen und Materialien gelingt es, die vielschichtigen Erlebniswelten eines Sitzmöbels zu evozieren und so den Besucher unmittelbar anzusprechen und ihn Wertigkeiten empfinden zu lassen. Daraus ergeben sich Fragen, werden Entscheidungsprozesse eingeleitet und grundsätzliche Kriterien bewusst gemacht. Diese Stimulierung vermag dazu beizutragen, aus einem undifferenzierten einen mündigen Konsumenten zu machen, indem sie in ihm von der alltäglichen Produktmenge verschüttete Überlegungen wachruft.

 

Das Sitzmöbel ist das dem Menschen nächste Möbelstück. Seine Proportionen stehen in engstem Verhältnis zum menschlichen Körper. An der wechselnden formalen Ausbildung und Typenfindung des Sitzmöbels lässt sich der Wandel der menschlichen Körpersprache ablesen. Diese scheint zwischen den beiden Gegensätzen von Repräsentation und Bequemlichkeit ihre Ausdrucksmittel zu suchen, die je nach den definierten Wertmaßstäben und gesetzten Prioriäten entstehen. Ein hoch- und geradlehniger Armlehnsessel verlangt nach einer anderen Kleidung und Körperhaltung als einer mit niedriger, nach hinten schräg geneigter und rund abgeschlossener Rückenlehne.

 

Grundsätzlich ergibt sich die Frage, ob das Möbel den menschlichen Körper beim Sitzen formt, oder ob das Gegenteil angestrebt wird. Als extremes Beispiel für letzteres kann der hier gezeigte „Sacco“, ein typisches Sitzmöbelmodell der 68er Generation, angesehen werden. Das erst im 18. Jahrhundert entstehende Konzept der Sitzgarnitur, die mehrere gleichartige Sitzmöbeltypen zu einer dekorativen Einheit zusammenfasst, ist Ausdruck dafür, dass keine Notwendigkeit mehr besteht, zwischen dem Stand der einzelnen Benutzer einen Unterschied zu machen; es kann sich erst durchsetzen, als das Hofrecht eine weniger strikte Rangordnung zwischen den einzelnen Sitzmöbeltypen vorschreibt. In unserem Unterbewusstsein lebt diese historische Entwicklung jedoch bis heute weiter. Noch 1922 schreibt das Handbuch des guten Tones und der feinen Sitte vor: „Als Dame gebührt dir der Platz auf dem Sofa, rechts von der Frau des Hauses. Als junges Mädchen bedienst du dich eines Sessels.“ Das Sitzmöbel lässt Formen- und Körpersprache zu einer lesbaren kulturhistorischen Einheit werden.... / Christian Witt-Dörring, Kustode der MAK-Sammlung Möbel und Holzarbeiten zur Zeit der Neuaufstellung der Studiensammlung Sitzmöbel